005 - Älternzeit by Jan Weiler

005 - Älternzeit by Jan Weiler

Autor:Jan Weiler [Weiler, Jan]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
Herausgeber: Heyne Verlag
veröffentlicht: 2023-02-28T23:00:00+00:00


EIN BINDER FÜR DEN HÄNGER

Wie viele andere hatte ich große Schwierigkeiten, mich an diese Maske zu gewöhnen. Am allerersten Tag der Maskenpflicht war ich zufällig in Berlin. Ich gehe mit Maske über die Friedrichstraße, und die entgegenkommenden Leute auf dem Gehweg weichen mir erschreckt aus. Es ist, als würde Moses das Meer teilen. Ich bin erst verwundert, aber dann fällt mir ein, dass ich zehn Minuten vorher in einer Bäckerei ein Stück Kirschstreusel gekauft habe. Ich habe gierig hineinbeißen wollen, aber vergessen die Maske abzusetzen, sodass ich mir den Kirschkuchen zunächst gegen die Maske rammte. Später auf der Straße sehe ich dann halt aus, als würde ich Blut husten.

Kurz darauf werden alle Reisen abgesagt, und ich mache, was alle Deutschen machen: Ich räume auf, sortiere, beschrifte und miste aus. Schließlich stehe ich vor meinem Kleiderschrank und denke:

Was mache ich bloß mit den ganzen Krawatten? Ich brauche sie nicht mehr. Das letzte Mal, dass ich einen Schlips getragen habe, ist etwa vier Jahre her. Es war bei einem offiziellen Anlass, der ungefähr eine Stunde dauerte. Danach riss ich mir das Ding vom Hals, warf es auf den Beifahrersitz und war froh, es los zu sein.

Dabei habe ich in früheren Zeiten ganz gerne Krawatten angehabt, und ich besitze sehr schöne und einige teure Exemplare. Wenn ich abends nach Hause kam, hing sie mir meistens bereits gelockert vor der Brust. Und wenn ich Glück hatte, war Nick noch wach. Er war damals ungefähr sechs Jahre alt, so lange ist das her. Ich setzte mich auf seinen Bettrand, las ihm etwas vor oder erzählte ihm eine Geschichte, und er spielte mit meiner Krawatte herum. Aber dann machte ich mich irgendwann selbstständig und trug seitdem vielleicht fünfmal einen Schlips. Es ergibt sich einfach nicht mehr, doch ich besitze noch gut zwei Dutzend Binder, die in meinem Kleiderschrank herumhängen wie unsortierte Jugendliche vor der Teestube der evangelischen Kirche.

Eine nicht so blöde Regel besagt, dass alles, was man zwei Jahre lang nicht mehr in die Hand genommen hat, eigentlich wegkann. Diese Vorgehensweise bringt die deutsche Ehe als Institution schwer in Gefahr. Und sie nimmt keine Rücksicht auf die emotionale Bindung des Menschen zu seinen Dingen. Ich bin in diesem Punkt nicht übertrieben sentimental. Ich hänge an ein paar Büchern, Bildern, Möbeln und Schallplatten, aber ich würde keine kaputte Pfeffermühle aufheben, weil Erinnerungen daran hängen. Wenn etwas im Eimer ist, dann wird es ersetzt. Und wenn Dinge nicht mehr dringend gebraucht werden, dann kann man sich von ihnen trennen. Zum Beispiel habe ich kürzlich alles entsorgt, was man zum Brennen von CD s brauchen kann. Ich besitze schon lange keinen Rechner mehr, in den man eine CD schieben könnte, also brauche ich auch keine Rohlinge, Etiketten und Hüllen.

Es war ein seltsames Gefühl, eine Art innerliche Amputation, denn ich habe in meinem Leben wirklich massenhaft Kassetten bespielt und auch viele CD s. Es dauerte ganze Abende, sie aufzunehmen und zu beschriften. Heute kann man einfach in Minuten eine Spotify-Liste herstellen und überall abspielen. Nichts daran ist besser oder schlechter, ich bin kein Nostalgiker, und mit der Entsorgung des CD -Krempels ist eine Schublade frei geworden.



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